Ich habe in letzter Zeit viele Instagram-Posts gelesen, die das Motto hatten „Du darfst…“ – gerade für Frauen. Zum Beispiel: Du darfst Grenzen setzen! Du darfst für dich einstehen! Du darfst tragen, was du willst! usw. Das hat mich zum Nachdenken gebracht, weil ich gemerkt habe, dass diese Posts in mir Widerstand auslösen. Aber warum? Das sind doch wichtige Botschaften, oder nicht?
Ich kriege in fast jedem Kurs ebenfalls Aussagen oder Fragen zum „dürfen“:
Wenn ich GFK lerne, darf ich noch sagen, was ich denke?
Darf man in der GFK auch mal schreien?
Darf ich dann überhaupt noch meine Wünsche durchsetzen wollen?
Ich finde diese Fragen spannend, denn: Wer entscheidet denn, was wir dürfen? Warum stellen wir überhaupt diese Frage? Und ist sie hilfreich?
Ich möchte zunächst auf die Frage „Was darf ich in der GFK“ eingehen, um etwas ganz Grundlegendes zu zeigen, was sich für mich auf alle Bereiche des Lebens beziehen lässt und mich schließlich zu einer Erklärung führt, warum die Posts Widerstand in mir auslösen.
Darf ich in der GFK…?
Wenn Menschen mich fragen, „darf ich…“, dann ist ja die erste Frage, die da drinsteckt: Wäre das „GFK“? Das ist leicht zu beantworten: Nein, z. B. mit Vorwürfen um sich werfen, ohne dass das Gegenüber sein Einverständnis dazu gegeben hat, ist nicht „GFK“.
Aber: deswegen ist es nicht falsch oder verboten, auch nicht, wenn du gerade GFK lernst. Die zweite Frage, die da drin steckt, bezieht sich darauf, „Darf ich das dann noch?“. Zur Beantwortung möchte ich gerne eine kleine Analogie heranziehen:
Stell dir vor, GFK ist ein Tool, ein Werkzeug, das du bekommst. Vorher hattest du vielleicht nur einen Hammer daheim und jetzt hast du zusätzlich noch das Multifunktionstool GFK. Darfst du dann eigentlich den Hammer immer noch benutzen?
Diese Fragen würde doch niemand stellen, oder? Wer sollte es dir denn verbieten? Vielleicht würde man sich denken „Hm, aber mit dem neuen Tool ginge das doch leichter, oder?“, aber vielleicht möchtest du aus Einfachheit oder Gewohnheit oder anderen guten Gründen einfach gerade lieber den altbewährten Hammer hernehmen. Und das ist okay.
Die Frage, die für mich wesentlich hilfreicher ist, ist: Was brauchst du denn gerade?
Also: Was möchtest du denn gerne erreichen? Denn: Wenn du Nägel in die Wand machen willst, kannst du dafür einen Hammer nutzen und er wird seinen Zweck erfüllen. Wenn du Schrauben in ein Holzstück machen möchtest, ist ein Hammer EINE mögliche Wahl, die aber vielleicht nicht das Ergebnis erzielt, das du dir wünschst. Da wäre vermutlich der Akkuschrauber, der im Multifunktionstool eingebaut ist, praktischer.
Außerhalb der Metapher gesprochen heißt das: Wir wollen oft Dinge wie Verbindung, verstanden werden, geliebt werden, angenommen sein, Empathie usw. Und nutzen dafür dann Vorwürfe, Schuldzuweisungen und Platzhalterdiskussionen – und oft sind wir am Ende frustriert, dass nicht das rauskam, was wir wollten. Wir verwenden ein Tool, das nicht sehr wahrscheinlich zu unserem gewünschten Ergebnis führt.
Ein praktisches Beispiel: „Darf ich meinem Partner in der GFK denn eigentlich auch mal die Meinung sagen?“
Klar darfst du, aber nicht, weil ich es „gut“ oder „richtig“ finde (oder es gar „gut“ oder „richtig“ ist – wer entscheidet das denn auch?!), sondern schlicht und ergreifend, weil es für mich ein „nicht dürfen“ gar nicht gibt. Wer sollte es dir denn auch verbieten? Du dir selbst vielleicht, aber selbst das empfehle ich nicht. Verbote nehmen uns oft die einzige Möglichkeit, die wir sehen, ohne uns Alternativen aufzuzeigen. Ich empfehle dir, dich stattdessen zu fragen: Was brauchst du?
Vermutlich ist die Antwort dann so was wie: Verstanden werden, Empathie, Liebe, Sicherheit, Leichtigkeit usw. Nehmen wir als Beispiel mal den Fokus auf das Bedürfnis nach Verständnis.
Dann frage ich weiter: Was würde dir dein Bedürfnis nach Verständnis denn erfüllen?
Die Meinung geigen? Geschulte Partner können vielleicht sogar in einem totalen Vorwurfssturm Verständnis aufbringen. Die meisten wohl eher nicht. Also würde dir das Schimpfen dein Bedürfnis vermutlich gar nicht erfüllen. Vor allem zumal ich denke, dass unsere Vorwürfe gar nicht das sind, was wir eigentlich rüberbringen wollen, sondern unsere Verzweiflung, Hilflosigkeit, den Wunsch oder die Sehnsucht nach Veränderung und generell einfach unseren Schmerz. Dafür eigenen sich Vorwürfe gar nicht so wirklich, weil sie meistens nur auf Details oder Symptome oder Auslöser bezogen sind, anstatt auf das, worum es eigentlich geht.
Wenn du es stattdessen z. B. schaffen würdest, dich erst einmal selbst zu hören (oder jemanden anzurufen, der es kann) und dann deinen Partner bitten würdest, deine bereits etwas ruhigeren Gedanken anzuhören, dann könnte dir das dein Bedürfnis nach Verständnis erfüllen. Erst einmal von dir selbst (oder der Person, die du angerufen hast) und dann von deinem Partner, der dich viel wahrscheinlicher hören kann, wenn 1. er zugestimmt hat und der Rahmen passt und 2. du bereits besser verstehst, was dir wirklich wichtig zu sagen ist.
Fazit: Je nachdem, was wir erreichen wollen, ist GFK an vielen Stellen das hilfreichere Tool. Wenn wir Verbindung, Verständnis, Liebe, Empathie, Miteinander oder Tiefe suchen, ist das Multifunktionstool GFK in den meisten Fällen wirklich sehr hilfreich. Wenn ich einfach nur will, dass mein Partner verdammt nochmal jetzt die Spülmaschine ausräumt, dann ist vielleicht der Hammer „Druck machen“ sinnvoller.
Nun kommt für mich allerdings noch eine weitere Frage zum Tragen: Welchen Preis hat welche Handlung?
Das ist ebenfalls eine Frage, die ich mir stelle, anstatt zu fragen, ob ich etwas „darf“ oder was „richtig“ ist. Wenn ich meinem Partner die Meinung geige, macht er vielleicht sogar kurzzeitig, was ich will. Der Preis den ich bezahle: Verbindung, Beziehung, vielleicht Liebe. Wenn ich aber auf GFK umschwenke und es schaffe, das vorwurfsfrei zu äußern, ist mein Preis, dass es mich Energie gekostet hat, vermutlich auch Zeit und Kraft. Wenn ich die gerade nicht habe, dann greife ich vielleicht auf Meinung geigen zurück. Und das ist okay.
Insgesamt: Für mich gibt es da kein Falsch. Manche Tools eigenen sich besser für das eine, andere für das andere. Die Fragen sind für mich immer: Was brauche ich gerade? Was würde mir dieses Bedürfnis erfüllen? Welchen Preis zahle ich?
Das heißt aber nicht, dass ich immer das effektivste und „beste“ Tool nutzen muss. Es heißt einfach nur, dass es unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten bringt, mit denen ich erreiche, was ich gerne hätte. (Und es ist auch ok, wenn ich es nicht erreiche.)
Damit komme ich zur Ausgangsfrage zurück.
Warum die meisten „Du darfst…“-Posts Widerstand in mir auslösen
Ein Beispiel von Instagram: „Du darfst Grenzen setzen und Nein sagen, wenn dir etwas zu viel ist!“ – Wenn ich so etwas lese, sehe ich die wunderschöne und wichtige Absicht, Menschen dabei zu unterstützen, dass sie gut auf sich achten, dass sie zu sich stehen, dass sie auf sich achtgeben und in Eigenverantwortung kommen.
Gleichzeitig denke ich mir jedes Mal: „Aber … Ich darf aber doch auch meine Grenzen übergehen und Ja sagen, obwohl ich nicht mehr kann.“ – und das fehlt mir oft in diesen Posts. Denn: Beides ist okay, nichts ist falsch, alles hat einen Preis.
Wenn ich Grenzen setze, dann schütze ich mich, schone meine Ressourcen, stehe zu mir und schaffe mir Raum. Dafür zahle ich vielleicht den Preis, dass ich Mut aufbringen muss, dass die Harmonie erst einmal verloren geht, dass ich überhaupt die Klarheit und Kraft brauche, das zu tun.
Wenn ich keine Grenze setze, mache ich es mir vielleicht gerade leichter (was verdammt unterschätzt wird, denn wir in der Persönlichkeitsentwicklung denken oft, der schwere Weg wäre immer der Richtige), sorge für Harmonie, Sicherheit, vielleicht Liebe. Dafür zahle ich vielleicht den Preis der Integrität, der Selbstfürsorge und des Schutzes meiner Kapazitäten.
Je nach meiner Verfassung, Bedürfnislage und meinem Energielevel ist es ganz unterschiedlich, wofür ich mich entscheide. Aber das Wichtigste ist: So oder so erfüllt es mir Bedürfnisse und keines von beidem ist „falsch“ oder „schlecht(er)“. Es gibt gute Gründe für beides und ich kann immer wieder neu wählen.
Genauso ist es okay, wenn ich es nicht schaffe, weil ich Kraft oder Bewusstsein gar nicht hatte. Dann kann ich danach immer noch schauen, was ich brauche, damit ich gut für mich sorge. Oder trauern, dass es mir damit nicht gut geht.
Ich möchte verhindern, dass ein neues Mindset entsteht, das wieder dieselben alten Denkmuster von Richtig und Falsch, von dürfen und nicht dürfen, von gut und schlecht vertritt, nur eben anders besetzt.
Vorher war es „richtig“, Bedürfnisse von anderen im Vordergrund zu haben, eigene Grenzen zu übergehen, „brav zu sein“. Heute scheint es „richtig“ zu sein, meine Bedürfnisse immer schützen, die eigenen Grenzen klar zu wahren, „zu mir zu stehen“.
Das Problem an der Sache ist: Es gibt immer noch ein „Falsch“ in beiden Versionen. Und das sehe ich als weder notwendig noch hilfreich. Für mich ist es viel schöner, wirklich zu spüren was ich brauche und zu schauen, wie ich mir das erfüllen kann – egal ob diese Handlung jetzt in mein altes Muster fällt oder was völlig Neues ist. Ich möchte mich für nichts mehr verurteilen, sondern stattdessen trauern, wenn meine Bedürfnisse unerfüllt sind und ich gerade nicht weiter weiß. Auch das darf sein. Trauer gehört dazu. Wir lernen und können immer wieder neu wählen.
Alles, was ist, darf sein. Ich darf danach traurig sein, ich darf wütend sein, es darf mir egal sein. Ich darf mit mir schimpfen, ich darf liebevoll mit mir sein. Ich darf meinen Partner anschreien, ich darf es bereuen, ich darf mich zurückhalten, ich darf mich gewaltfrei äußern. Ich darf kämpfen, ich darf aufgeben, ich darf scheitern und ich darf liegenbleiben solange ich will. Ich darf meine Grenzen übertreten, mich danach scheiße fühlen, meine Grenzen nochmal übertreten, mich wieder scheiße fühlen, solange ich will. Ich darf meine Grenzen wahren, ich darf sie kommunizieren, es darf mir schwerfallen, es darf mir leichtfallen, es darf mir leidtun, weil es andere vor den Kopf stößt, ich darf mich schuldig fühlen und gleichzeitig erleichtert. usw. usf.
Was auch immer ist, darf sein.
Und im nächsten Moment ist es sowieso schon wieder anders.
Alles anzunehmen, was gerade ist, und mir zuzugestehen, dass alles, wirklich alles, sein darf, bewirkt Wunder, das verspreche ich dir.
(Und wenn du gerade nicht annehmen kannst, was ist, kannst du vielleicht annehmen, dass du es gerade nicht annehmen kannst. Und dann schau, was sich verändert.) 🙂