Welche Bedürfnisse stecken hinter dem Urteil „ungerecht“?

Gerechtigkeit ist in der GFK ein sehr umstrittenes Bedürfnis. Nach den Kriterien der GFK ist es ein Bedürfnis, gleichzeitig steckt oft eine Haltung dahinter, bei der es eng in mir wird, bei der es um Richtig und Falsch geht. Das weist darauf hin, dass es meist nicht als Bedürfnis verwendet wird. In diesem Blogatikel möchte ich dem Thema Gerechtigkeit auf den Grund gehen und verschiedene Richtungen anbieten, worum es dabei gehen könnte, wenn wir uns „Gerechtigkeit“ wünschen oder etwas als „ungerecht“ erleben.

Gerechtigkeit als Bedürfnis?

Nach der Definition der GFK ist Gerechtigkeit ein Bedürfnis, denn es erfüllt die entsprechenden Kriterien:

Es ist abstrakt, also nicht greifbar oder direkt sinnlich wahrnehmbar und unabhängig von bestimmten Personen, Orten, Zeiten, Handlungen oder Dingen. Es ist ein allgemein menschlicher Wert. Das heißt, jeder Mensch und jede Gesellschaft wünscht sich in der einen oder anderen Form Gerechtigkeit. Es ist vielfältig und bietet viele Möglichkeiten, um es zu erfüllen.

Warum also ist es so fragwürdig, dass Gerechtigkeit ein echtes Bedürfnis ist?

Gerechtigkeit ist deshalb ein umstrittenes Bedürfnis, weil es fast immer mit einem Denken von Richtig und Falsch einhergeht. Was wir als gerecht erleben, basiert stark darauf, was wir als Richtig und was wir als Falsch definieren. Dass unsere Bewertung darüber bestimmt, ob wir ein Bedürfnis als erfüllt oder unerfüllt erleben, gilt letztendlich für alle Bedürfnisse. Gleichzeitig ist „Gerechtigkeit“ noch stärker an moralische Grundsätze gebunden, geht meist mit Vergleichen einher und hat oft einen Wunsch nach Rache, Vergeltung oder Strafe zur Folge.

Wenn du dich schon länger mit GFK beschäftigst, weißt du vielleicht, dass es dabei vor allem um eine Haltung von Eigenverantwortung und Miteinander geht. Bei dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit erlebe ich häufig, dass Menschen es zwar als Bedürfnis verwenden, jedoch feststecken in dem Gedanken, dass jemand anders falsch oder richtig gehandelt hat. Diese Gefahr birgt jedes Bedürfnis. Ich kann zum Beispiel sagen „Ich bin traurig, weil ich mir Unterstützung wünsche.“ und dabei denken „Und du hast mich nicht unterstützt und solltest das aber tun, schließlich sind wir Freunde!“ – dann bin ich nicht wirklich beim Bedürfnis, das unabhängig ist.

Du kannst an deinem eigenen Körper erkennen, ob du wirklich bei einem Bedürfnis bist oder nicht. Wenn du an das Bedürfnis denkst, wird dir dann eher eng und es schmerzt? Kommt Wut, Traurigkeit, Frust oder Druck auf? Dann bist du nicht in einer bedürfnisorientierten Haltung. Wahrscheinlich bist du dann in einer Haltung, dass jemand das erfüllen müsste und es nicht tut oder – also hängst du an einer bestimmten Strategie?

Wenn du allerdings beim Gedanken an das Bedürfnis Weite, Offenheit und Kraft spürst, dann bist du sehr wahrscheinlich in der bedürfnisorientierten Haltung.

Ich erlebe es als äußerst schwer, wenn ich an Gerechtigkeit denke, nicht in den Gedanken zu fallen, dass jemand etwas ändern muss, damit bei mir Gerechtigkeit erfüllt ist. Das ist an sich auch völlig in Ordnung, jedoch sind wir dann nicht mehr bei dem Bedürfnis nach GFK. Denn dabei geht es um einen allgemeinen Wert, den ich als bereichernd in meinem Leben erlebe und für den ich mehr gehen möchte – in Eigenverantwortung.

Um das Urteil „ungerecht“ besser zu verstehen“, möchte ich hier ein paar Ansätze und Ideen liefern, was hinter dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit stecken könnte. Wenn ich verstehe, was dahintersteckt, ist es meiner Erfahrung nach leichter, im nächsten Schritt in die eigenverantwortliche Haltung der GFK und damit in eine Unabhängigkeit von anderen sowie in die echte bedürfnisorientierte Haltung zu kommen.

Ernst genommen und berücksichtigt werden

Wenn ich etwas als ungerecht erlebe, dann könnte dahinter der Wunsch stecken, ernst genommen zu werden. Ich möchte sichergehen, dass mein Anliegen ebenfalls wichtig ist und zählt. Ich möchte, dass die Wichtigkeit dessen erkannt wird, was ich mir wünsche.

Nehmen wir ein Beispiel: Mein Partner macht mit seinen Kumpels aus, dass sie gemeinsam eine bestimmte Bergtour machen. Nun wäre ich allerdings auch gerne mit meinem Partner diese Tour gegangen und möchte nicht mitkommen, weil es eine ausgemachte Männerrunde ist.

Ich könnte das als ungerecht erleben, weil ich denke, dass mein Anliegen weniger zählt als das der Kumpels. Dass ich weniger wichtig bin, mein Wunsch weniger zählt. Vielleicht geht es also gar nicht um Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, sondern darum, dass wir in unserer Partnerschaft den anderen und seine Wünsche ernst nehmen und mitberücksichtigen.

Das berührt auch das Thema Gleichwürdigkeit, das ich in einem weiteren Absatz näher behandle.

Wirksamkeit und Mitbestimmung

Vermutlich geht es auch darum, dass ich noch mitwirken kann in einer Entscheidung. Ich erlebe Dinge oft nur dann ungerecht, wenn ich vor „vollendete Tatsachen“ gestellt werde, also den Eindruck habe, nichts mehr daran ändern zu können und im Entscheidungsprozess nicht einbezogen worden zu sein.

Hätte mein Partner mich in dem Beispiel vorher gefragt, wie ich dazu stehe und mir seine Gründe offengelegt, mich in den Prozess einbezogen und mich dabei ernst genommen, dann wäre vielleicht dasselbe Ergebnis rausgekommen und ich hätte es nicht als Ungerechtigkeit erlebt.

Wenn ich also wütend über eine „Ungerechtigkeit“ bin, habe ich vielleicht den Gedanken „Ich kann nichts ändern, ich bin machtlos.“ und bin vielleicht eigentlich hilflos und verzweifelt, weil ich gerne wirksam wäre? Gerne mitgestalten möchte? Gerne selbst entscheiden würde?

Gesehen, verstanden und wertgeschätzt werden

Wenn ich möchte, dass jemand für Ungerechtigkeit bestraft wird, ich zum Beispiel anschließend sage, dass ich mit meiner besten Freundin in die Therme gehe, obwohl ich es mit meinem Partner ausgemacht habe, kann es auch dabei um gesehen werden gehen: Ich möchte, dass mein Gegenüber erkennt und weiß, welche Traurigkeit, Enttäuschung oder Wut in mir ist. Ich möchte in meinen Gefühlen gesehen und verstanden werden – und wie ginge das besser, als wenn dem Gegenüber dasselbe widerfährt?

Wenn ich also einen anderen Menschen „verletzen“ möchte, weil ich selbst „verletzt wurde“ (Achtung, das sind Gedanken, keine Wahrheit – in der GFK gehen wir davon aus, dass niemand einer anderen Person Gefühle machen kann), dann bin ich auch da vielleicht hilflos und sehne mich danach, in meinen Gefühlen verstanden zu werden, gesehen zu werden, in meiner Verletztheit einfach sein zu dürfen und dabei gehalten und unterstützt zu werden?

In anderen Fällen geht es vielleicht darum, dass ich den Gedanken habe, „mehr zu verdienen“ als ich bekommen habe. Auch das kann „Ungerechtigkeit“ triggern und auch da geht es vermutlich darum, mit den eigenen Leistungen, Besonderheiten, Fähigkeiten, Bemühungen gesehen und wertgeschätzt zu werden, oder?

Wenn ich mir zum Beispiel Mühe gebe, eine Vereinbarung einzuhalten, und eine andere hält sich nicht daran, wird aber nicht bestraft und ich erfahre auch keine Belohnung für mein Einhalten, kann das „ungerecht“ wirken. Ich habe vielleicht selbst viel investiert und zurückgesteckt, um mich an das Ausgemachte zu halten und erwarte mindestens eine Konsequenz dafür, dass die andere nicht dieselbe Bereitschaft hatte. Vermutlich geht es dabei darum, dass meine Mühe gesehen und wertgeschätzt wird?

Orientierung und Planbarkeit

Vereinbarungen, Regeln und Richtlinien geben Sicherheit und Orientierung. Zu wissen, woran ich bin, was welche Konsequenzen hat, womit ich rechnen kann, in welchem klaren Wertesystem von Richtig und Falsch ich mich bewege, erleichtert oft das Leben. So muss ich nicht ständig neu überlegen, was jetzt das „Richtige“ oder „Beste“ wäre, sondern habe klare Leitlinien, um mich zu orientieren, denn ich weiß, dass ein Regelverstoß R1 Konsequenz K1 zur Folge hat und ein andere Regelverstoß R2 Konsequenz K2. Daran kann ich mich orientieren und meine Entscheidungen bewusst und selbstbestimmt treffen.

Wenn allerdings nun ein anderer für Regelverstoß R1 keine Konsequenz erfährt, oder ich für Regelverstoß R2 die schlimmere Konsequenz K3 erfahre, dann kann das meine Orientierung und damit mein Sicherheitsempfinden erschüttern und damit das Urteil „ungerecht“ triggern.

Ein Beispiel:
Jemand parkt auf dem Parkplatz neben mir falsch und ich bekomme ein Knöllchen, während die andere Person keines bekommt. Wie unfair ist das denn?

Hinter dem Urteil „Wie unfair ist das denn“ steckt vermutlich unter anderem ein klarer Wunsch, mich orientieren zu können und zu wissen, woran ich bin. Es geht auch um Sicherheit, da ich nur dann einen Eindruck von Sicherheit habe, wenn ich ungefähr weiß, welches Handeln welche Konsequenzen mit sich bringt.

Augenhöhe und Gleichwürdigkeit

Wenn ich möchte, dass durch Strafe oder Rache Gerechtigkeit wiederhergestellt wird, kann es auch um Augenhöhe gehen. Ich denke, dass das in vielen Fällen eine große Rolle spielt. Dabei läuft vielleicht unbewusst folgender Gedankenstrang ab:

Jemand hat mich ungerecht behandelt. Er hat sich über mich gestellt und mir ein Unrecht zugefügt. Jetzt steht er über mir und ich bin klein, verletzlich, untergeordnet.
oder
Jemand hat mehr bekommen als ich. Jetzt steht sie über mir, ist wichtiger, wertvoller und ich bin klein, verletzlich, untergeordnet, weniger wert.

In beiden Fällen ist in meinem Erleben die Augenhöhe und die Gleichwürdigkeit verrutscht und das ist etwas, das Menschen schwer aushalten. Wir möchten miteinander auf Augenhöhe sein, möchten gleichwürdig sein, als (mindestens) genauso wertvoll erachtet werden wie andere.

Und eine unserer angelernten Strategien, um wieder mit anderen Menschen, die wir über uns erleben, auf Augenhöhe zu kommen, ist diese runterzuziehen, indem wir sie angreifen, bestrafen oder abwerten. Frei nach dem Motto „Wenn ich nicht zu dir hoch kann, dann kommst du aber wenigstens zu mir runter, dafür sorge ich.“

Und eigentlich steckt hinter der Wut der dringende Wunsch, meinen Wert zu schützen? Auf Augenhöhe, gleichwürdig zu sein?

Was bringt das Ganze nun?

In der GFK geht es darum, immer besser zu verstehen, was mir eigentlich wirklich wichtig ist und wie ich selbst dafür sorgen kann, ohne andere Menschen ändern zu wollen oder zu müssen. Umso mehr ich dem auf die Spur komme, was wirklich hinter dem ersten, augenscheinlichen Bedürfnis steckt, das noch voll von urteilenden Gedanken ist, desto tiefer komme ich wirklich an den Kern des Ganzen und erkenne, was mir wirklich wichtig ist – wie eine Zwiebel, die geschält wird.

Von da aus kann ich dann einige Urteile, einiges an Starrheit und Fixierung, loslassen und viel offener nach Erfüllung meines Bedürfnisses suchen und mit anderen ins Gespräch gehen, wie sie mich unterstützen können.

Ein Beispiel zum Reinspüren: Fühle mal, wie sich die beiden Versionen für dich anfühlen.

Mann, das ist so ungerecht! Jetzt hat mein Bruder von meinen Eltern Geld bekommen und ich nicht! Wie fies ist das denn bitte?! Ich leiste mindestens genauso viel und bräuchte ebenso die Unterstützung. Aber ich bin denen ja egal. Das ist so dermaßen unfair! Ich wünsche mir Gerechtigkeit! Die müssen mir doch genauso Unterstützung geben wie meinem Bruder! Pf, werden sie schon sehen, dann melde ich mich halt nicht mehr bei denen.

vs.

Boah, da kommt so eine Wut hoch und das Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Aha, ich finde das ungerecht – was da wohl dahintersteckt? Ich hab so Gedanken wie „Ich bin denen egal!“ oder „Ich leiste genauso viel wie mein Bruder.“ Vielleicht geht’s mir darum, dass ich gerne gesehen und wertgeschätzt werden will in meinen Leistungen und Bemühungen. Und ich hätte gerne die Gewissheit, auch wichtig zu sein und unterstützt zu werden. Ich frage mich wirklich, warum sie so gehandelt haben. Ich glaube, mir könnte es helfen, ihre Beweggründe zu verstehen – und vielleicht wissen sie ja gar nicht, dass ich auch Unterstützung bräuchte. Ich denke, ich werde sie mal fragen, wieso sie da einen Unterschied gemacht haben zwischen mir und meinem Bruder. Und vielleicht frage ich auch, ob sie bereit wären, mich ebenfalls zu unterstützen.

Macht es für dich einen Unterschied?

Fallen dir weitere Bedürfnisse ein, die hinter dem Urteil „ungerecht“ stehen könnten? Schreib mir gerne eine Mail mit Anregungen, Ideen, Fragen oder Kommentaren.

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