Lass uns nochmals gemeinsam die ersten drei Schritte der GFK zusammenfassen, ehe wir zum vierten kommen:
Im 1. Schritt erkennst du, was objektiv betrachtet geschehen ist und trennst deine Wahrnehmung von deiner Interpretation und deinen Urteilen darüber ab.
Im 2. Schritt spürst du, welche Gefühle das Erleben der Situation in dir auslöst und unterscheidest sie von den Gedanken über die Situation.
Im 3. Schritt übernimmst die Verantwortung für deine Gefühle, indem du sie mit deinen eigenen universellen Bedürfnissen koppelst. Dabei hältst du nicht an konkreten Strategien fest, sondern findest heraus, welche Bedürfnisse dahinterstecken. So weit sind wir bisher.
Im 4. Schritt, der Bitte, geht es nun darum, für das zu gehen, was dir wichtig ist, und dir deine Bedürfnisse zu erfüllen. Konkrete Bitten müssen dabei nicht immer an andere gerichtet sein – sie können auch etwas sein, das du dir von dir selbst wünschst. Hier geht es also um ganz konkrete Strategien.
Strategien loslassen, um Strategien zu finden
Du erinnerst dich sicher, dass wir im 3. Schritt Bedürfnisse und Strategien unterschieden haben. Warum also nun wieder zu den Strategien zurückkehren?
Anfangs hängen wir oft in einer einzigen oder in wenigen, uns altbekannten Strategien fest. Daher ist es wichtig, erst einmal das Bedürfnis zu finden und wieder rauszukriegen, worum es denn dabei wirklich geht. Wenn wir darüber Klarheit haben, können wir im 4. Schritt erneut schauen, was denn nun – aus dieser erweiterten, neuen und klareren Perspektive – unterstützend sein könnte, um für uns zu sorgen.
Ein kurzes Beispiel vorab:
Wenn ich mich ärgere, weil der Müll nicht runtergebracht ist, ist die erste Strategie, die mir einfällt, meinen Freund mahnend aufzufordern, den Müll gefälligst endlich rauszubringen. Wenn er das nicht macht, bleibe ich ärgerlich oder werde noch wütender.
Erforsche ich jedoch meine Bedürfnisse, die dahinterstecken, merke ich: Es geht gar nicht so sehr um den Müll und auch nicht primär um Ordnung oder Sauberkeit, wie es zunächst scheint. Es geht darum, dass ich mich gerne darauf verlassen mag, wenn wir was ausmachen, dass es auch eingehalten wird. Und ich merke, dass jetzt den Müll noch nachträglich rauszubringen, dieses Bedürfnis überhaupt nicht erfüllen würde. Vielmehr wünsche ich mir ein offenes Gespräch, in dem wir schauen, was er braucht, um sich wirklich an Vereinbarungen bezüglich des Haushalts zu halten. Das wäre dann meine neue Strategie, die dem tiefergehenden Bedürfnis Rechnung trägt.
Darum möchten wir uns in diesem Schritt kümmern, indem wir uns klarmachen, was uns jetzt helfen würde, unser Bedürfnis zu stillen, und das – bei Bedarf – auch äußern.
Ein „Bitte“ macht keine Bitte
Natürlich gibt es auch hier eine Grundunterscheidung, die wesentlich ist, um die GFK-Haltung einzunehmen. Was macht also eine Bitte aus? So viel vorab: Es ist nicht das Wort „Bitte!“ 😉
Übung:
Frage dich einmal selbst, was für dich eine Bitte ausmacht. Um dir selbst darüber klarer zu werden, was für dich Bitten sind, gebe ich dir mal vier Sätze und du kannst für dich entscheiden, was davon in deinen Augen eine Bitte ist und was nicht.
1. Leg jetzt bitte dein Handy weg.
2. Kannst du bitte ENDLICH MAL deine nervige Musik ausmachen?
3. Wärst du bereit, mir heute Abend beim Abwasch zu helfen?
4. Du räumst jetzt dein Zimmer auf, klar?
Was davon sind für dich Bitten? Und als was würdest du die anderen Sätze bezeichnen?
In der GFK unterscheiden wir klar zwischen Bitten und Forderungen. Aber was ist der Unterschied? Überleg mal: Kannst du für dich Merkmale festlegen, was eine Bitte ist und was eine Forderung?
Hier die Auflösung:
Es geht nicht um den Wortlaut oder die Sprache, die verwendet wird. GFK wäre doch nicht GFK, wenn die Unterscheidung rein sprachlicher Natur wäre, oder?
Der Unterschied zwischen Bitten und Forderungen lässt sich erst dann klar und deutlich erkennen, wenn jemand nein sagt. Denn eine Forderung duldet kein Nein, während eine Bitte offen dafür ist, wie jemand darauf reagiert.
Bitten vs. Forderungen
Wenn also auf eine scheinbare Bitte hin jemand nein sagt und die Reaktion besteht aus Beschuldigungen, Vorwürfen, Beleidigtsein, Argumentieren oder Bestrafung, dann war es keine Bitte. Echte Bitten zeichnen sich dadurch aus, dass es wirklich okay ist, wenn die andere Person ablehnt. Es ist sogar erwünscht, denn wenn wir nach GFK bitten, möchten wir, dass der andere nur dann unsere Bitte erfüllt, wenn er es wirklich von Herzen will.
Die Sätze oben lassen sich also nicht so einfach als Bitten oder als Forderungen klassifizieren, bis wir wissen, wie die Person auf ein nein reagiert, die diese Sätze äußert. Manche lassen aufgrund der Sprache vermuten, dass die Offenheit vorhanden ist, andere weniger.
Allerdings ist das wirklich sehr unterschiedlich von Mensch zu Mensch. Manche Menschen hören in allen noch so mit Offenheit formulierten Bitten Forderungen, allein weil sie eine klare Handlung beschreiben. Andere hören auch in sehr vehementen Äußerungen Offenheit heraus. Wieder anderen geht es explizit um das Wort „Bitte“. Je nachdem, wie wir aufgewachsen und sozialisiert sind, erleben wir das unterschiedlich. Was jedoch entscheidend ist, ist unsere eigene Haltung, wenn wir um etwas bitten.
Wenn du jetzt so drüber nachdenkst, wie oft erlebst du Bitten in deinem Alltag? Wie oft stellst du selbst echte Bitten, bei denen du entspannt bleibst, wenn jemand nein sagt? Wie oft wirst du um etwas gebeten und hast den Eindruck, du darfst ablehnen, ohne dass dein Gegenüber sauer, enttäuscht oder beleidigt ist?
Ich vermute, dass das gar nicht so oft der Fall ist.
Genau wie bei den anderen Schritten wird das Wort „Bitte“ in der GFK enger definiert als in der Umgangssprache. Das kennen wir bereits vom Begriff
- „Wahrnehmung“, der in der Umgangssprache mit Interpretation vermischt wird („Ich nehme wahr, dass er mich nicht mag.“)
- „Gefühl“, wo stattdessen Pseudogefühle oder – allgemeiner gesagt – Gedanken geäußert werden (Ich fühle mich im Stich gelassen.“)
- „Bedürfnis“, das mit Strategien verwechselt oder vermischt wird („Ich brauche jetzt dringend ein Stück Schokolade!“)
Genauso wird das Wort „Bitte“ häufig verwendet, obwohl es sich überhaupt nicht um eine Bitte, sondern ganz klar um eine Forderung oder einen Wunsch handelt.
In der GFK unterscheiden wir zwischen Bitten und Forderungen, weil wir unsere eigene Haltung hinterfragen und an unsere Werte anpassen möchten. Wir wollen nicht bestimmte Worte verwenden und „schöner“ sprechen, nur um andere zu manipulieren und sie am Ende dazu zu bringen, das zu tun, was wir wollen.
Aber warum eigentlich? Ist doch toll, wenn alle tun, was ich will, oder?
Der Preis für Zwang
Sagen Menschen ja oder tun etwas, obwohl sie es nicht wollen, handeln sie in der Regel aus Angst, Schuld oder Scham. In der GFK gibt es den Grundsatz, dass wir niemals möchten, dass Menschen aus so einer Motivation heraus handeln, denn sie wird als „lebensentfremdend“ erachtet. Das liegt daran, dass sie auf Urteilen basiert und uns oftmals stark von unseren Bedürfnissen, also dem, was in uns wirklich „lebendig“ ist, abschneidet.
Wir möchten, dass alle aus einer „lebensdienlichen“ Kraft heraus entscheiden können, was sie tun möchten und was nicht, also in Verbundenheit und Einklang ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Sagen Menschen ja oder tun uns einen Gefallen, weil sie Angst vor Strafe haben, sich nicht schuldig fühlen oder schämen wollen, dann zahlen wir einen sehr hohen Preis dafür.
Der Preis ist, dass die Beziehung nachhaltigen Schaden nimmt. Wir können immer davon ausgehen, dass Menschen, die sich oft selbst übergehen, um etwas für andere zu tun, früher oder später eine Rechnung stellen – sei es in Form von Beziehungsabbruch, nachhaltiger Frustration oder Unzufriedenheit, Burnout, Depression, Gegenforderungen, Wutausbrüchen usw.
Tatsächlich bin ich selbst oft total dankbar (und drücke das auch aus), wenn Freunde nein zu mir sagen, selbst wenn das Ergebnis für mich ungünstig ist. Ich weiß dann: Sie vertrauen mir, dass ich entspannt damit umgehen kann und einen anderen Weg finde, gut für mich zu sorgen. Ich erlebe es als ehrlich und transparent und bin erleichtert, dass sie gut für sich sorgen. Dadurch kann ich leicht die Verantwortung bei ihnen selbst lassen und brauche mir keine Gedanken machen, ob es wirklich passt, wenn sie ein anderes Mal ja sagen. Ich kann dann im Vertrauen sein, dass es ein Ja von Herzen ist und sie es mir niemals in Rechnung stellen werden.
Ich wünsche mir, dass wir Menschen in einem Miteinander sind, wo wir gerne und von Herzen geben, weil es unser natürlicher Wunsch ist. Wo wir nur dann geben, wenn es gerade für uns passt, und wir immer gut auf uns selbst achtgeben. Wo wir einander berücksichtigen und gemeinsam nach Wegen suchen, wie mein und dein Bedürfnis erfüllt werden kann, anstatt dass einer verzichten und leiden muss.
Ich lade dich ein, mal für dich zu prüfen, ob du da dieselbe Sehnsucht hast wie ich.
Im nächsten Blog geht es dann um die Umsetzung: Wie komme ich in diese entspannte, offene Haltung, wenn jemand Nein sagt? Und wie reagiere ich dann auf das Nein?