Folge 11: Vom Urteil zum Bedürfnis

In den letzten Folgen hast du unter anderem gelernt, Wahrnehmungen von Interpretationen und Gefühle von Pseudogefühlen zu unterscheiden. Wie ich auch schon mehrmals betont habe, sind Urteile und Pseudogefühle nicht schlecht und es ist nicht das Ziel, sie zu vermeiden oder sie wegzumachen. Gerade wenn wir unsere Bedürfnisse erforschen möchten, können uns unsere Urteile sehr hilfreich sein! In dieser Folge möchte ich näher darauf eingehen, wie wir unsere Bedürfnisse von unseren Urteilen aus identifizieren können.

Mit 3 Fragen zum Bedürfnis

Häufig sind wir sehr schnell dabei, zu urteilen. Wir wissen noch nicht, worum es uns geht und was wir gerade brauchen, aber wir ordnen in Höchstgeschwindigkeit Verhalten oder Situationen in unsere bisherigen Schubladen ein. Das liegt aus meiner Sicht stark an der Erziehung, da wir wenig bis gar nicht gelernt haben, über Bedürfnisse zu sprechen, während Urteile oft unsere alltägliche Kommunikation dominieren. Nun kannst du lernen, deine Urteile zu übersetzen und dir damit deiner Bedürfnisse bewusst werden.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie du von einem Urteil zu einem Bedürfnis kommst. Ein kognitiver Weg kann sein, dass du dir folgende Fragen stellst:

1. Was ist das Gegenteil?

Wenn ich beispielsweise denke, dass jemand respektlos ist (Urteil), weiß ich sofort, um welches Bedürfnis es mir vermutlich geht, wenn ich das Gegenteil finde: jemand ist respektvoll. Es geht mir also um einen respektvollen Umgang. 

„Er ist respektlos!“
-> Was ist das Gegenteil? Er ist respektvoll
-> Ich wünsche mir Respekt / einen respektvollen Umgang.

2. Was will ich stattdessen?

Ich denke so etwas wie „Ich fühle mich total verarscht.“ Jetzt weißt du ja bereits, dass es sich dabei nicht um ein echtes Gefühl handelt, sondern um einen Gedanken: Ich denke, da ist eine Person, deren Verhalten bedeutet: Sie verarscht mich. Jetzt kann ich mich fragen, was das Gegenteil ist: nicht verarscht zu werden. Das bringt mich noch nicht zu meinem Bedürfnis. Zu fragen, was ich mir stattdessen wünsche, kann mir helfen, meinem Bedürfnis näherzukommen. Vermutlich möchte ich anstatt verarscht zu werden sicher sein, dass ich als Mensch ernst genommen werde.

„Ich fühle mich verarscht!“
-> Was ist das Gegenteil? Ich möchte nicht verarscht werden.
-> Was möchte ich stattdessen? Ich möchte ernst genommen werden.

3. Was würde mir das erfüllen?

Urteile können natürlich auch gegen mich selbst gerichtet sein. So kann ich beispielsweise „das Gefühl haben“, dumm, hässlich oder unfähig zu sein. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um Urteile über mich, denen Bedürfnisse zugrunde liegen. Ich kann also nun die Fragen durchgehen, was das Gegenteil ist bzw. was ich stattdessen möchte: Ich möchte klug, schön und talentiert sein.

Nun weiß ich noch nicht, was mein Bedürfnis ist, aber wenn ich mich immer wieder frage „Was würde mir das erfüllen?“, kann ich nach und nach zu meinem Bedürfnis vordringen. Eine erste Antwort kann sein: Ich würde bewundert werden. Dann frage ich erneut: Was würde mir das bringen, bewundert zu werden? Ich spüre nach und merke, dass ich dann sicher dazugehören und gemocht werden würde. Es geht mir also um Zugehörigkeit und um die Sicherheit, gemocht zu sein.

Ich fühle mich total dumm, hässlich und unfähig.
-> Was ist das Gegenteil? Ich möchte nicht dumm, hässlich und unfähig sein
-> Was möchte ich stattdessen? Ich möchte klug, schön und talentiert sein.
-> Was würde mir das geben, schön, klug und talentiert zu sein? Ich würde bewundert werden.
-> Was würde mir das geben, bewundert zu werden? Ich würde dazugehören und gemocht werden.
-> Ich möchte Zugehörigkeit und die Sicherheit, gemocht zu werden.  

Der emotionale Weg

Das ist der kognitive Weg, um Bedürfnisse zu finden. Es gibt noch einen emotionalen Weg, der etwas schwieriger in Worte zu fassen ist und für den es keine klare „Bedienungsanleitung“ gibt.

Bei diesem Weg geht es darum, wirklich in mich hineinzuspüren und die Gefühle zuzulassen, die gerade durch den Mangel an einem oder mehreren wichtigen Bedürfnissen aufgekommen sind. Dabei frage ich mich, wie ich es gerne hätte oder was ich mir wünsche, wie Menschen miteinander umgehen, und komme so auf mein Bedürfnis.

Ich kann mir auch ähnliche Situationen vorstellen, in denen ich mich aber viel wohler gefühlt habe, und mich fragen, was der Unterschied ist, also was damals erfüllt war, das jetzt nicht erfüllt ist. So kann ich leichter erspüren, welche Bedürfnisse hinter meinen Urteilen stecken.

Wieder mehr in Verbundenheit mit dir selbst zu kommen und intuitiv deine Gefühle und Bedürfnisse zu erkennen, kannst du üben. Dabei können dir meine Meditationen helfen.

Die Haltung hinter Bedürfnissen

Wie immer in der GFK ist auch hier nicht nur entscheidend, welche Worte wir verwenden – die Haltung spielt auch hier die größte Rolle!

Ich möchte dir an einer Gegenüberstellung veranschaulichen, wie plakativ gesagt die unterschiedlichen Haltungen bei Urteils- und bei Bedürfnisorientierung aussehen (In diesem Beispiel ist alles „negativ“ formuliert, da „positive“ Urteilsorientierung, eher selten zu Konflikten führt):

Wie du siehst, ist die Haltung eine völlig andere. Nur die Worte für Bedürfnisse zu verwenden, aber noch immer in Richtig und Falsch, Schuld und Recht haben zu denken, wird wenig Veränderung bringen.

Annahme als Grundvoraussetzung

Wenn du wirklich auf der Suche nach deinen Bedürfnissen bist und trotzdem noch in diesen Gedanken hängst, dass jemand für deine Bedürfniserfüllung verantwortlich wäre, kann es sein, dass du deinen Gefühlen und Urteilen noch nicht genug Raum gegeben hast.

Vorschnell unsere Urteile loswerden zu wollen, macht es viel schwieriger, wirklich in eine Haltung der GFK zu kommen. Nur das, was wir ins Licht holen, uns ansehen und akzeptieren, können wir uns bewusst verwandeln. Gewaltvolles oder urteilsbehaftetes Denken wegzuschieben ist also aus meiner Sicht nicht der Weg, um mehr Frieden in dein Inneres zu bringen.

Marshall Rosenberg (der „Begründer“ der GFK) spricht sogar davon, im Prozess der GFK erst einmal die Urteilsshow zu genießen. Das heißt, er gibt dem Raum, was unweigerlich da ist. Er hört seinen Urteilen zu, ohne sich selbst dafür wiederum zu verurteilen und ohne sie für wahr oder falsch zu erklären.

Das heißt nicht, dass wir unseren Ärger oder unsere Gedanken anderen an den Kopf werfen müssen. Mit Raum geben meine ich, dass wir ihnen zuhören und sie erst einmal sein lassen, wie Kinder, die sich in unserem Kopf in Wut austoben, ehe sie wieder konstruktiv handeln können.

Ich lade dich also ein, deinen Urteilen und deinen Gefühlen erst einmal Raum zu lassen, ihnen zuzuhören, sie zu beobachten, sie sich in dir austoben zu lassen. Vielleicht kannst du ja sogar die Vehemenz genießen, mit der die Gedanken kommen und die Kraft spüren, die durch die Wut und den Zorn entstehen. Diese Kraft kann dir dabei helfen, für das einzustehen, was dir wirklich wichtig ist im Leben. „Wow, da scheint mir ja was enorm wichtig zu sein, wenn da in mir so ein Vulkan ausbricht!“  

Danach kannst du den Schritt machen, zu erforschen, auf welche unglaublich wichtigen Werte dich diese Gefühle und Gedanken so dringend hinweisen möchten und wie du mehr davon in dein Leben bringen kannst.

Wie genau sich ein Miteinander und auch die eigene Haltung verändert, wenn wir uns an Bedürfnissen orientieren, das erfährst du in der nächsten Folge!

Wenn du jetzt Lust bekommen hast, selbst einzusteigen und zu lernen, wie du den Umgang mit anderen Menschen erreichst, den du dir wünschst, dann besuche gerne ein Seminar von mir oder melde dich zu einem persönlichen Coaching an: