Folge 6: Einen Schritt zurücktreten – Wahrnehmung und Interpretation unterscheiden

In der letzten Folge hast du bereits erfahren, wie sich dein Gehirn und deine Gedanken ständig selbst bestätigen, wenn du in deiner unbewussten Interpretation gefangen bist. In dieser Folge möchte ich dir zeigen, wie du lernen kannst, immer öfter deine Interpretation zu durchschauen, einen Schritt zurück zu machen, eine neutrale Wahrnehmung zu finden und aus dieser heraus bewusster zu entscheiden, was du denken möchtest.

1. Interpretation erkennen

Du weißt ja bereits, wie sehr uns unsere Interpretationen trügen können und warum es so wichtig ist, von ihnen Abstand zu nehmen. Das heißt nicht, dass du nie mehr interpretieren sollst – das ist weder möglich noch sinnvoll! Deine Interpretationen helfen dir in der GFK, dich selbst besser zu verstehen und sind weder schlecht noch falsch!

Das Entscheidende ist, sich über die eigenen Interpretationen klar zu werden (und dass sie durch den Kreislauf genau das erschaffen, was man erwartet) und sie von den neutralen Wahrnehmungen zu unterscheiden.

Die meisten Zeit sind wir völlig unbewusst identifiziert mit unseren Gedanken (übrigens auch mit unseren Gefühlen) und die wenigste Zeit gehen wir einen Schritt zurück und schauen bewusst auf das, was da gerade in uns vor sich geht – als BeobachterInnen unserer selbst. Die Interpretationen dürfen trotzdem sein, nur sind wir nicht damit identifiziert, sondern beobachten sie. Später wirst du noch erfahren, wie wichtig und hilfreich Interpretationen und Urteile im GFK-Prozess sind!

Das heißt, der erste Schritt ist es, dir bewusst zu machen, dass du da gerade interpretierst und dass du die Welt durch deinen Filter betrachtest. Dabei geht es nicht darum, deine Interpretationen wieder zu bewerten, wie zum Beispiel: „Jetzt denke ich schon wieder so einen Unsinn, dabei wollte ich doch nicht bewerten!“ oder „Das stimmt doch so gar nicht, warum denke ich das?!“ – Das ist nicht Sinn der Sache.

Ziel ist es, dass du in einer neutralen, annehmenden und neugierigen Haltung auf deine Gedanken schauen und sie einfach nur beobachten kannst, ohne dich mit ihnen zu identifizieren oder sie abzulehnen. Ich sage mir dabei gerne: „Aha, das denke ich also über die Situation! Ist ja spannend!“ oder „Aha, das schlussfolgere ich also daraus! Interessant!“ Und wenn ich mich dabei erwische, wie ich denke „Jetzt stecke ich schon wieder in dieser Gedankenschleife fest, gibt’s ja nicht!“, dann nehme ich auch diese Gedanken mit einem liebevollen, interessierten Lächeln wahr. Ich kann immer wieder auf eine bewusste Ebene gehen und alles beobachten, was in meinem Inneren passiert.

Wie aber geht das? Wie kann ich mir meiner Gedanken bewusst werden und eine Beobachterposition einnehmen?

Um diesen Schritt raus aus der Identifikation und hin zum Bewusstsein zu gehen, brauchst du deine Atmung! Drei bis fünf tiefe Atemzüge in den Bauch helfen dir dabei, wieder bewusst zu werden und aus dem Gewirr an Interpretationen herauszutreten und dich selbst von oben zu betrachten.

Ich stelle mir dabei gerne vor, wie ich mich mit meinem Bewusstsein über meine Gedanken und Gefühle erhebe und von oben darauf schaue, wie eine liebevolle Mutter, die interessiert und voller Wohlwollen beobachtet, was ihr Kind tut. Sie will nichts „wegmachen“ oder ändern, sondern begleitet ihr Kind einfach mit dem, was gerade da ist.

Um dich ans Atmen zu erinnern und einen Schritt zurück zu machen, können kurze Schlüsselworte dir helfen. Umso öfter du dir diese Worte über den Tag verteilt denkst und anwendest, desto häufiger wirst du es auch in schwierigen Situationen schaffen, dich daran zu erinnern und durchzuatmen. Hier ein paar Beispiele für Schlüsselworte, die mir helfen:

Stopp!
Beobachten!
Atmen!
Pause!
Innehalten!
usw.

Vielleicht kannst du sie dir auch auf einen Zettel kleben oder andere Erinnerungen machen, um immer wieder im Laufe des Tages durchzuatmen und nachzuprüfen, was du gerade denkst, fühlst und was sonst in dir vor sich geht. Schenke dir ein Lächeln und ein liebevolles „Interessant!“.

2. Von der Interpretation zur Wahrnehmung

Im zweiten Zug kannst du dann schauen, was wirklich geschehen ist. Das hilft dir dabei, dich wieder für eine andere Möglichkeit der Interpretation und die Sicht anderer zu öffnen und auszubrechen aus dem automatischen Kreislauf der Selbstbestätigung.

Denke an die Situation und versuche, sie so neutral wie möglich zu beschreiben. Folgende Fragen können dir helfen:

Was hat wer ganz genau gesagt? (Zitate!)
Was hat wer genau getan? (konkrete Handlungsbeschreibungen)
Was ist die Realität?
Was ist wahr?
Was würde eine Kamera aufnehmen?
Was würde in einem Sachbericht stehen?

Ich möchte mit dir eine kleine Übung machen. Ich schreibe dir Situationen auf und du entscheidest, ob es für dich eine neutrale Wahrnehmung beschreibt. Zur Wiederholung poste ich dir hier noch mal die Tabelle zur Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Interpretation:

1. Alexandra redet zu viel.
2. Du kommst immer zu spät!
3. Sie hat letzten Monat 50€ für Kosmetik ausgegeben.
4. Deine Mutter ist ein wunderbarer Mensch.
5. Ich sehe keine Wolke am Himmel.
6. Herr Maier findet mich unsympathisch.
7. Sie hat zu mir gesagt: „Das muss man doch kapieren!“
8. Er hat mich angeschnauzt und beleidigt.

Okay, so viel bis hierhin. Welche der Sätze sind aus deiner Sicht Wahrnehmungen, welche Interpretation? Wenn du einen Satz als Interpretation eingestuft hast, welche Wahrnehmung könnte dann dahinterstecken? Denke dir eine konkrete Handlung zu den jeweiligen Interpretationen aus. Wenn du einen Satz als Wahrnehmung eingestuft hast, welche Interpretationen könnten dabei auftauchen?

Mache dir gerne Notizen und Gedanken zu jedem dieser Sätze und dann lies weiter – so hast du einen größeren Lerneffekt!

Meine Lösungsvorschläge:

1. Alexandra redet zu viel.

Das ist aus meiner Sicht eine Interpretation. „Zu viel“ kann man nicht aufnehmen und ist keine neutrale Beschreibung.
Eine Wahrnehmung dazu könnte sein: „Alexandra hat in unserem 30-minütigen Telefonat mindestens 20 Minuten lang von sich erzählt.“ – manche bewerten es vielleicht nicht als „zu viel reden“, sondern als „Alexandra ist aufgeschlossen!“ oder „Alexandra ist freundlich!“

2. Du kommst immer zu spät!

Hier stecken gleich zwei Interpretationen drin: „Zu spät“ ist, wie beim Beispiel zuvor, bereits bewertet. Eine Wahrnehmung wäre: „Wir haben 16:00 ausgemacht und du kamst um 16:20.“ oder kürzer „Du kamst 20 Minuten nach der vereinbarten Zeit.“

„Immer“ ist höchstwahrscheinlich auch eine Interpretation. Es ist für mich kaum vorstellbar, dass ein Mensch wirklich IMMER später kommt als vereinbart. Selbst wenn es der Wahrheit entspräche, würde es sehr wahrscheinlich als Vorwurf aufgefasst. Neutral und objektiv wäre es, wenn ich sage: „Die letzten drei Male, als wir uns verabredet haben, kamst du mindestens 10 Minuten später als vereinbart.“

Eine Alternative zu „immer“, „nie“ usw. kann auch sein, dass ich sage: „Ich kann mich an kein Mal erinnern, wo wir uns getroffen haben, und du zur vereinbarten Zeit gekommen bist.“ – Dabei gilt es, wirklich neugierig zu sein, ob das Gegenüber das auch so in Erinnerung hat, denn wie wir wissen, kann unsere Erinnerung sehr trügerisch sein!

3. Sie hat letzten Monat 50€ für Kosmetik ausgegeben.

Das ist aus meiner Sicht eine Wahrnehmung.
Zwei völlig verschiedene Interpretationen dazu könnten sein: „Sie ist verschwenderisch.“ oder „Sie ist sehr sparsam!“ – je nachdem, welche Vorstellungen ich davon habe, wie viel üblicherweise für Kosmetik ausgegeben werden „sollte“.

4. Deine Mutter ist ein wunderbarer Mensch.

Das ist meiner Ansicht nach eine Bewertung. Was tut sie genau, das ich als „wunderbar“ empfinde? Was ist die Handlung dazu, die ich konkret beobachten und beschreiben kann? Beispiel: „Deine Mutter kocht jede Woche freiwillig Essen für Obdachlose und ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns jemals gestritten haben.“ – das wäre eine mögliche Wahrnehmung. Eine andere Wahrnehmung kann auch ein Gefühl sein, das ich bei ihr habe: „Ich genieße es, deine Mutter um mich zu haben!“

5. Ich sehe keine Wolke am Himmel.

Ich ordne diesen Satz als Wahrnehmung ein.
Mögliche Interpretationen dazu wären: „Es ist schönes Wetter!“ oder „Wir haben aber auch Pech!“ – je nachdem, was ich mir wünsche.

6. Herr Maier findet mich unsympathisch.

Das ist meiner Ansicht nach eine Interpretation, denn hier analysiere ich bereits, was das Verhalten, das Herr Maier gezeigt hat, bedeutet. Eine Wahrnehmung beschreibt ein konkretes Verhalten wie z. B.: „Herr Maier hat gesagt ‚Ich finde Sie unsympathisch!'“ oder „Herr Maier hat mindestens fünf anderen KollegInnen im Büro eine Weihnachtskarte geschrieben und ich habe keine von ihm bekommen.“

7. Sie hat zu mir gesagt: „Das muss man doch kapieren!“

Das ist aus meiner Sicht eine Wahrnehmung, da ich wiedergebe, was eine andere Person gesagt hat, ohne es bereits zu interpretieren oder ihm eine Bewertung zu geben.
Mögliche Interpretationen dazu sind: „Sie hat mich als dumm dargestellt!“ oder „Sie war ganz überrascht!“

8. Er hat mich angeschnauzt und beleidigt.

„Angeschnauzt“ und „beleidigt“ sind für mich keine Wahrnehmungen. Ich interpretiere bereits, was das, was die Person gesagt hat, bedeutet.
Neutral wäre es, wenn ich wiedergebe, was er gesagt hat, z. B.: „Er hat gesagt: ‚Sie sind eine Null und ein arroganter Idiot noch dazu!'“ oder „Oh je, da haben Sie aber einen Fehler gemacht!“

3. Alternative Interpretationen

Oftmals ist es gar nicht so einfach, Wahrnehmungen von Interpretationen zu unterscheiden und die eigene Interpretation als das zu erkennen, was sie ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es hilfreich sein kann, mir auch andere mögliche Interpretationen vorzustellen. Das heißt, ich suche nicht nur nach der Wahrnehmung, sondern danach, wie ich die Wahrnehmung nun wieder auf ganz andere Weise interpretieren könnte.

Dabei geht es nicht darum, Recht zu haben oder die „richtige“ Sichtweise zu finden. Es gibt hier kein Richtig und keine Wahrheit, sondern einfach nur eine Vielzahl an Möglichkeiten, das Geschehene zu deuten, die verschieden Auswirkungen auf dich haben. Umso flexibler du dabei bist, desto bewusster kannst du dich entscheiden, welche Sichtweise dir dabei hilft, deine Ziele zu erreichen.

Vielleicht unterstützen dich dabei folgende Fragen und Gedanken:

Kann ich das noch anders deuten?
Ist das so?
Was würde ein Alien sagen? (genauer: Wie würde ich die Situation beschreiben, wenn ich keinerlei Vorwissen über diese Welt, diesen Menschen oder diese Situation hätte?)
Wie würde das … deuten? (z. B. jemand, der die Dinge oft anders sieht als du)

Werde dabei gerne kreativ. Es darf spielerisch, leicht und freudvoll sein, sich mit den eigenen Gedanken auseinanderzusetzen. Es muss nicht schwer und anstrengend sein, sich selbst zu reflektieren und die eigenen Muster zu verändern. Es kann Spaß machen, sich vorzustellen, welche abstrusen anderen Interpretationen möglich wären – und es hilft aus meiner Erfahrung dabei, bescheidener zu werden mit dem Gedanken, bereits genau zu wissen, was vor sich geht.

Ziel des Ganzen ist es, mir bewusst zu machen, dass ich nicht die Realität beschreibe, sondern durch meine sehr eingeschränkte Brille schaue, und mich zu öffnen für eine Vielzahl an neuen Betrachtungsweisen.

Am Ende kann ich entweder bei der neutralen Wahrnehmung bleiben oder mich bewusst entscheiden, welche Interpretation ich glauben und nicht glauben möchte, anstatt immer wieder dem eigenen unbewussten Kreislauf der Selbstbestätigung zu erliegen und damit die Macht über das eigene Leben abzugeben.

Und gleichzeitig ist es wichtig, die eigenen Interpretationen nicht „wegzuwerfen“, sondern sie ernst zu nehmen und aus ihnen ihre wichtige Botschaft zu schöpfen, die in jeder Interpretation für dich bereitsteht – dazu mehr in den nächsten Folgen!

In der nächsten Folge …

Für den Moment ist mir wichtig, dass du dich immer wieder selbst hinterfragst und deine Interpretationen identifizierst. Wenn du es dann noch schaffst, neutral zu beschreiben, was wirklich geschehen ist, dann hast du den ersten von vier Schritten der GFK gemeistert! 🙂

Gerade in emotional herausfordernden Situationen ist es besonders schwer, sich von den eigenen Interpretationen zu distanzieren. Gerade dann ist es wichtig, die Interpretationen nicht blind zu glauben, sondern ihre wunderschöne Botschaft zu hören. Das und Weiteres werden wir in den nächsten Folge zum Thema Gefühle und Bedürfnisse besprechen!

Was denkst du darüber? Schaffst du es häufig, deine eigenen Interpretationen zu hinterfragen und dich selbst zu beobachten? Wenn du dabei Schwierigkeiten hast, schreib mir gerne einen Kommentar, vielleicht kann ich dich unterstützen!