Folge 2: Die vier Schritte in der Übersicht

Liebe und Mitgefühl sind die Grundlagen für den Weltfrieden – auf allen Ebenen.
Dalai Lama

Wie ich dir bereits in der letzten Folge erklärt habe, gibt es in der Gewaltfreien Kommunikation zwei Seiten, die sich gegenseitig ergänzen und bedingen: die Sprache und die Haltung. Heute beschäftigen wir uns mit der sprachlichen Form, die hinter der Gewaltfreien Kommunikation steht.

Dabei gibt es vier Schritte mit vier Grundunterscheidungen. Jede Grundunterscheidung basiert darauf, womit der Schritt in der Umgangssprache häufig verwechselt wird. Das heißt, du lernst nicht nur, welche vier Schritte es zu tun gibt, sondern auch in welche Verwechslungsfallen du tappen könntest! In diesem Blogartikel bekommst du eine Übersicht über die vier Schritte und die Stolperfallen.

Wofür genau die vier Schritte gut sind, also wie du sie nutzt, sage ich dir am Ende!

Der erste Schritt: Die Wahrnehmung

Eine Wahrnehmung, bedeutet, objektiv zu beschreiben, was passiert ist. Neutral wie eine Kamera: Was habe ich gesehen? Was habe ich gehört?

Das klingt erst mal ziemlich simpel, aber spätestens wenn es um die Unterscheidung geht, wird es knifflig: In der GFK unterscheiden wir Wahrnehmungen von Interpretationen. Das bedeutet, alles, was ich bereits bewerte oder einordne, ist keine Wahrnehmung mehr, sondern eine Interpretation. Es ist nicht einfach, da rauszukommen, und einen objektiven Blick auf die Tatsachen zu werfen.

Das menschliche Gehirn ist darauf gepolt, alles sofort einzuordnen und zu kategorisieren. Das ist gut, das ist schlecht, dieses fair, jenes unfair, X ist gerecht, Y war ungerecht, die handelt richtig und der handelt falsch. Gerade im Streit neigen wir dazu, Interpretationen anstatt der Fakten zu nennen. „Nie hörst du mir zu!“ „Immer willst du was alleine unternehmen!“ „Ständig nörgelst du an mir herum!“ „Mein Chef redet viel zu viel!“ „Sie sind zu streng mit den Kindern!“ usw.

All das sind Interpretationen. Was aber ist denn denn eine Wahrnehmung? Nehmen wir das Beispiel: Malon hat mich ausgeschlossen! Das ist keine objektive Wahrnehmung, sondern eine Interpretation. Eine Wahrnehmung dazu ist: Malon hat gesagt ‚Ich will mich mit Ruto allein unterhalten!’. Das sind die Fakten, die Malon so vermutlich bestätigen würde. Dahinter steckt noch keine Wertung von Richtig oder Falsch. Es gibt einfach nur wieder, was geschehen ist.

Das Ziel ist es nicht, Interpretationen zu vermeiden. Das können wir aus meiner Sicht als Menschen gar nicht, da es unser natürlicher Mechanismus ist, der unser Überleben sichert und das Gehirn entlastet. Es geht darum, nach der blitzschnellen Einordnung und Beurteilung der Lage zu entschleunigen, einen Schritt zurück zu machen und mit neuem, möglichst neutralen Blick auf die Situation zu schauen.

Dieser Schritt bildet die Grundlinie, auf der wir anfangen, uns wieder für andere Sichtweisen und Einschätzungen als unsere eigenen zu öffnen, und mit dem anderen eine Basis finden, auf der über Geschehens gesprochen werden kann.

Der zweite Schritt: Gefühle

Sich über die eigenen Gefühle klar zu werden und erst einmal zu spüren, ist für viele Menschen ungewohnt und unangenehm. Die meisten Menschen haben einen sehr limitierten Wortschatz für Gefühle: gut, naja, schlecht. Ich glaube, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass meisten Menschen der Industrienationen ein wesentlich reicheres Vokabular an Schimpfwörter haben als an Gefühlen.

Die Grundunterscheidung des zweiten Schrittes ist, Gefühle von Gedanken zu unterscheiden. Wir tarnen Gedanken in der Umgangssprache häufig als Gefühle: Ich spüre, dass er mich nicht mag! Ich fühle, dass das einfach falsch ist! Ich fühle mich total benutzt! Mein Gefühl sagt mir, dass er sich unfair verhalten hat!

Ich kenne so viele Menschen, die nur in Kontakt mit ihren Gedanken und Urteilen sind, was falsch und was richtig ist, wer Recht hat, wer sich gut und wer schlecht verhält usw., anstatt damit in Kontakt zu sein, was etwas in ihnen auslöst, also welche Gefühle sie zu einer Situation haben. Das führt zu unglaublich viel Gewalt in der Welt, da jeder sein eigenes Richtig und Falsch, Gut und Böse, Recht und Unrecht hat. Und wenn jeder seins als das einzig Wahre sieht, sieht er sich auch im Recht, die zu bestrafen oder mit Gewalt zu überzeugen, die anders denken.

Unsere Welt ist zu komplex, um sie in solche starren Kategorien einzuteilen. Ein aus meiner Sicht wesentlich geeigneterer Maßstab für die Welt im ständigen Wandeln sind Gefühle. Denn wir bewerten Dinge doch nur dann als „schlecht“ oder „falsch“, wenn sie wichtigen Werten widerstreben.

Anstatt uns auf die Bewertungen zu konzentrieren, nehmen wir die Gefühle wahr, die ein Verhalten oder eine Situation in uns auslöst und hangeln uns an den Gefühlen bis zu ihrem Ursprung entlang. Dort finden wir das, was in der GFK Bedürfnisse heißt. Und um die geht es im dritten Schritt:

Der dritte Schritt: Bedürfnisse

„Bedürfnisse“ ist ein anderes Wort für allgemein menschliche positive Werte wie Freiheit, Liebe, Zugehörigkeit, Sicherheit, Wirksamkeit, Sinn, Kreativität, Verbindung, gehört, respektiert und ernst genommen werden usw. Einige dieser Werte hast du bereits im letzten Blogartikel kennengelernt, als es darum ging, was dir im Umgang mit anderen wichtig ist. Dort haben wir bereits festgestellt:

Alle Menschen haben dieselben Bedürfnisse mit unterschiedlicher Gewichtung und unterschiedlichen Wegen, sie zu erfüllen. Je nach Kultur, Alter, Umfeld, Zeit und Situation ist das zwischen verschiedenen Personen, aber auch bei ein und derselben Person unterschiedlich. Ein ganz banales Beispiel: Manchmal stillen wir unser Bedürfnis nach Genuss mit Erdbeeren, manchmal mit Bratkartoffeln. Andere stillen es vielleicht mit Brokkoli oder einem Erdnussbuttersandwich. (Na, Hunger?! ;))

Bei den jeweiligen Varianten handelt es sich um sogennante „Strategien“, also konkrete Handlungen, mit denen wir Bedürfnisse erfüllen wollen. Strategien und Bedürfnisse werden in der Umgangssprache häufig durcheinander geworfen. Strategien sind EINE konkrete Realisierungsmöglichkeit für abstrakte Bedürfnisse, die alle Menschen teilen.

Räum dein Zimmer auf! Beweise mir deine Liebe! Gib mir Recht! Mach, was ich sage! usw. sind keine Bedürfnisse. Bedürfnisse sind völlig unabhängig von Personen. Dass also eine bestimmte Person etwas tut, kann nie ein Bedürfnis sein.

Eine typische Strategie, die als Bedürfnis getarnt ist, ist zum Beispiel: Ich brauche einen Kaffee. Die Bedürfnisse dahinter könnten vielleicht Entspannung, Ruhe, Genuss, Gemeinschaft, Alleinsein, Struktur und Beständigkeit, Energie und Wachheit oder ganz andere sein.

Gefühle und Bedürfnisse sind unzertrennlich miteinander verbunden. Wenn wichtige Bedürfnisse nicht erfüllt sind, stellen sich Gefühle ein, die viele als „negative“ Gefühle betrachten würden: Trauer, Wut, Enttäuschung, Frust usw. Wenn wesentliche Bedürfnisse erfüllt sind, merken wir das durch ein sogenanntes „positives“ Gefühl wie Freude, Entspannung, Dankbarkeit usw. Die Gefühle sind also Wegweiser auf unsere Bedürfnisse, die erfüllt oder nicht erfüllt sind. Statt also in starren Kategorien wie Richtig und Falsch zu denken, spüre ich in der GFK meine Gefühle und erkenne, welche Bedürfnisse dahinter stehen, die gerade wichtig für mich sind. 

Im Beispiel, wo Malon mit Ruto alleine sprechen wollte, versuche ich also von der Bewertung, dass es falsch und unfair von ihr war, mich so gemein auszuschließen, wegzukommen und hinzukommen zu einem Spüren meiner Gefühle und Bedürfnisse: Ich bin traurig und wütend, weil ich dazugehören und einbezogen werden will. Außerdem geht es mir um ein offenes Miteinander, in dem alle Teil der Gruppe sind.

Wenn ich Menschen frage, was ihre Bedürfnisse sind, sind sie oft ratlos. Sie haben nicht gelernt, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Schon von klein auf lernen wir, unsere Bedürfnisse zu verdrängen. Viele von uns mussten aufessen, selbst wenn sie satt waren. Wir mussten in der Schule still sitzen und genau im selben Tempo auf dieselbe Weise denselben Inhalt lernen wie 30 andere Kinder – ob wir nun spielen oder uns bewegen wollten, mehr Lust auf Mathe statt Deutsch hatten oder eigentlich gerade mit eigenen Sorgen beschäftigt waren, für die wir ein offenes Ohr und Verständnis gebraucht hätten.

Bedürfnisse bilden den Mittelpunkt der GFK, um den sich alles dreht. Der vierte Schritt dient nun dazu, konkrete Strategien zu finden, wie andere mir Bedürfnisse erfüllen können:

Der vierte Schritt: Die konkrete Bitte

In diesem Schritt geht es darum, klarzukriegen, was ich überhaupt möchte und wie jemand das realisieren kann. Es geht also darum, ganz konkrete und realisierbare Handlungen zu nennen, damit mein Gegenüber weiß, wie er jetzt dazu beitragen kann, dass meine Bedürfnisse erfüllt sind.

Ich erinnere mich an meine Teenie-Zeit an einen Streit mit meinem ersten Freund. Ich forderte von ihm, dass er mir seine Liebe beweisen sollte. Er fragte mich, wie genau er das machen solle, und ich sagte total irritiert zu ihm: „Ist doch nicht mein Problem! Das musst du doch wissen!“ Heute lache ich darüber. Früher war es mir ernst. Ich wusste nicht, was ich brauche und schon gar nicht, welche Handlungen dazu führen könnte, dass ich bekomme, was ich brauche.

Und manchmal war es mir auch einfach zu peinlich, meine Wünsche auszusprechen, wenn sie mir klar waren. Ich weiß nicht, was ich früher gewollt hätte, aber vielleicht wäre es so etwas gewesen wie: Ich will, dass jeden Tag mindestens drei Stunden Zeit mit mir verbringst, mir täglich mehrfach sagst, wie toll du mich findest, und alle weiblichen Kontakte außerhalb deiner Familie von deinem Handy löschst.

Es ist wichtig, mir klar darüber zu werden, was ich wirklich von einem anderen möchte. Genauso wichtig ist es, dann nicht in die Falle zu tappen und eine Forderung auszusprechen.

Was unterscheidet eine Bitte von einer Forderung? Wie du vielleicht bereits vermutest, ist es nicht das Wort „Bitte“. Es ist die Art, wie ich reagiere, wenn jemand nicht tun möchte, was ich mir wünsche: Nur wenn ich wirklich entspannt bleibe, wenn jemand Nein sagt, war es wirklich eine Bitte.

Man erkennt eine Forderung daran, wenn nach einem Nein eine der folgenden Reaktionen kommt: Du denkst doch immer nur an dich! Nächstes Mal helfe ich dir auch nicht! Da brauchst du dich nicht wundern, wenn ich keine Lust habe, dir zu helfen! Na toll, was soll ich jetzt machen?! oder auch Arme verschränken, traurig schauen, oder wenn es nach ein paar Wochen wieder hochkommt: „Damals hast du mir auch nicht …!“

Wenn ich wirklich eine Bitte äußern will, muss ich mir klar darüber sein, dass es viele Wege gibt, um mein Bedürfnis zu erfüllen. Der Weg, den ich als Bitte formuliere, ist nur eine von zahlreichen Möglichkeiten, die mir eben gerade passend erscheint. Im guten Kontakt mit einem andere finde ich fast immer Wege, wie meine und seine Bedürfnisse gleichzeitig erfüllt werden können – auch wenn es vielleicht nicht genau mein Lieblingsweg ist.

So, die vier Schritte sind also zusammengefasst:

1. Wahrnehmung
Was habe ich gesehen / gehört, ohne jede Bewertung, Kategorisierung, Urteil?
Unterscheidung von: Interpretation

2. Gefühl
Weg von „richtig/falsch?“ hin zu „Wie fühle ich mich nun?“
Unterscheidung von: Gedanke

3. Bedürfnis
Welcher wichtige, abstrakte und allgemein menschliche Wert steckt hinter dem Gefühl?
Unterscheidung von: Strategie

4. Bitte
Was genau kann ein anderer tun, damit ich zufriedener bin? Das ist nur EINE Möglichkeit und ich bin offen für andere Wege.
Unterscheidung von: Forderung

Die vier Schritte als das neue „Richtig“ ?!

Viele Menschen, die GFK lernen, denken, dass ich ihnen sage: Wahrnehmungen sind gut, Interpretationen sind schlecht. Gefühle zu nennen ist richtig, Gedanken zu nennen ist falsch usw. Deshalb möchte ich das hier ganz klar herausstellen, auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole:

Es geht nicht darum, was besser oder schlechter ist. Sondern darum, was du erreichen willst. Beispielsweise zu sagen, dass Bitten grundsätzlich gut und Forderungen schlecht sind, wäre genauso abwegig wie zu behaupten, Norden wäre grundsätzlich besser als Süden oder Westen besser als Osten.

In diesem Kontext merkst du vielleicht, wie unsinnig es wäre, in gut und schlecht oder richtig und falsch einzuteilen. Nichts ist per se besser oder schlechter. Es kommt darauf an, wo du hinwillst.

In der letzten Folge haben wir über deine Werte im zwischenmenschlichen Umgang gesprochen. Nun geht es darum, wie du diese Werte umsetzen kannst. Dir über die vier Schritte klar zu werden und sie von den Verwechslungen zu unterscheiden, wird dir enorm dabei helfen, deine Werte auch in Konflikten zu leben. Wenn du also nach Norden willst, dann macht es Sinn, nach Norden zu gehen. Das macht den Süden nicht schlecht, aber südlich führt dich einfach nicht dahin, wo du gerade hinwillst – oder nur mit einem gigantischen Umweg.

Vier Schritte auf drei Arten

Nun habe ich dir zu Beginn versprochen, noch darauf einzugehen, wie du die vier Schritte nutzen kannst. Dafür gibt es im Wesentlichen drei verschiedene Möglichkeiten:

1. Selbstreflexion
Ich mache sie mir selbst klar und werde mir erst mal bewusst, was wirklich abseits meiner Bewertung geschehen ist, was ich fühle, was ich brauche und was ich von jemandem erbitten könnte.

2. Selbstausdruck
Ich teile der anderen mit, was ich wahrgenommen habe, was ich fühle, was ich brauche und worum ich sie bitten möchte. Manchmal teile ich auch nur bestimmte Schritte, je nach Situation.

3. Zuhören:
Ich höre, was die andere sagt, indem ich alles, was sie sagt, in die vier Schritte übersetze oder zumindest in Gefühle und Bedürfnisse. Das nennt sich dann Empathie.

Zu jedem dieser Punkte wirst du noch mehr erfahren. Zum Zuhören werde ich sowieso noch eigene Blogartikel schreiben. Im nächsten Blog geht es aber erst mal um die Haltung, die du brauchst, um überhaupt die vier Schritte auszudrücken, damit es authentisch ist. Und danach gehe ich auf jeden einzelnen Schritt näher ein!

Das war’s mit der 2. Folge!

Hinterlass mir gerne einen Kommentar, wie dir dieser Blogartikel gefallen hat, welche Fragen oder Anregungen du hast und teile ihn auch gerne mit FreundInnen! Es gibt die Blogartikelreihe Einführung in die Gewaltfreie Kommunikation auch als Podcastreige – für Menschen, die lieber hören statt zu lesen!

Wenn du jetzt Lust bekommen hast, selbst einzusteigen und zu lernen, wie du den Umgang mit anderen Menschen erreichst, den du dir wünschst, dann besuche gerne ein Seminar von mir oder melde dich zu einem persönlichen Coaching an:

Es gibt viele Vorurteile und Fragen zum Thema GFK, die aufkommen, wenn man gerade anfängt, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Einige davon habe ich in einem gesonderten Blogartikel behandelt. Schau doch mal rein: