Mit außerirdischen Augen

Als ich nun auf der Wiese des Campus saß und das rege Treiben um mich herum betrachtete, erinnerte ich mich wie aus dem Nichts an einen Aufsatz, den ich neulich aus Interesse gelesen hatte. Es ging dabei um die Willkürlichkeit von sprachlichen Zeichen und wie wir von unserer Sprache ganz unterbewusst gelenkt und eingeschränkt wurden.

Die These war, dass Grammatik und Sprache nicht nur Werkzeuge waren, sich selbst auszudrücken, sondern viel eher schon die Grundstrukturen des Denkens bildeten und damit gewisse Denkweisen vorgaben. Warum mir das ausgerechnet jetzt in den Kopf kam, war mir unklar, und doch faszinierte mich der Gedanke und ich versuchte, ihn auf diese Situation anzuwenden.
Ich dachte darüber nach, dass ich für alles, was hier vor sich ging, Worte hatte. Hier neben mir stand ein Baum, ich saß auf einer Wiese, ein paar andere Menschen liefen zielgerichtet auf dem Kiesweg um den Campus herum, starrten im Gehen auf ihre Handys oder in die Ferne auf ihr vermeintliches Ziel. Schnüffelnde Hunde wurden an der Leine geführt, ein paar Meter weiter fuhr ein silbernes Auto langsam über den Campus und die Steinchen unter ihm knirschten auf dem Teerboden. Bunte Insekten flogen umher, Ameisen krabbelten unablässig auf den Grashalmen auf und ab, die wenigen der übrig gebliebenen Blätter raschelten am Baum oder wurden durch die Luft gewirbelt. Eine kühle Brise trieb die watteartigen Wolken über den Himmel in Eisblau .

Ich stellte mir vor, was wäre, wenn ich all diese Unterscheidungen nicht kennen würde. Wenn mir unklar wäre, was Mensch, was Tier, was Pflanze, was Technik wäre. Was würde wohl ein Außerirdischer jetzt über dieses Szenario denken? Ich versuchte, so weit ich es konnte, von meinem Standpunkt zu abstrahieren, um herauszufinden, wie viel Unterschied das wirklich machte.
Ich saß also auf einer Wiese. Nein, ich saß auf einer Art grünem Geflecht aus einzelnen Wesen, die symbiotisch mit Insekten … mit anderen Geschöpfen lebten, die meist sechs Beine und hin und wieder Flügel hatten. Ich nannte sie die Sechsbeiner. Das Gras nannte ich halmartige Geflechtstruktur.

Erstaunt von all diesen ungewohnten Sichtweisen begutachtete ich das Gras direkt unter meinen Händen. Wenn ich nicht wüsste, dass Gras nicht kommunizieren oder Bäume nicht denken konnten, würde es auf mich auf jeden Fall so wirken. Jeder Halm bog sich anders im Wind und alles schien irgendwie zu interagieren. Die Bäume, interagierten, indem sie ihre Fortsätze bewegten, was ein raschelndes Geräusch erzeugte und für eine andere Spezies vielleicht wie Kommunikation wirken konnte. Das Laub auf dem Boden lief ohne Beine voran, flog los, landete. Auch das Brummen und Gröhlen der Autos wirkte sehr viel interaktiver als ein Mensch, der mit starrem Blick und gleichmäßigen Mund­bewegungen Laute ausstieß, während er sich seinen elektronischen Fortsatz an die Schläfe hielt. Das schien viel eher die Reaktion einer Maschine auf die Impulse einer anderen zu sein. Ich blickte nach oben und sah, wie die Wolken zogen. Auch sie gingen ihrer Wege, interagierten aber durchaus mit andern, wenn sie sich begegneten. Sie verschmolzen miteinander, sie lösten sich auf, sie bildeten sich aus dem Nichts. Das war schon faszinierend. Und hinter all dem war das dauernde Gezwitscher der Vögel, die noch nicht in die Wärme des Südens geflohen waren, und Geschnatter der Enten am Teich zu hören, die von allen die kommunikativsten Lebewesen zu sein schienen.

Kurz lächelte ich über meine Fähigkeit, mir bescheuerte Namen für diese Dinge auszudenken und darüber, dass dies wieder nur irgendwelche willkürlichen Bezeich-nungen waren, nur dass sie nicht die gewohnten waren. Und doch machte es mir so viel Spaß, aus dieser merkwürdig unüblichen Perspektive auf das Szenario zu sehen, dass ich weitermachte, auch wenn mir die Sinnlosigkeit dessen bewusst war.

Ich sah rüber zu dem Baum neben mir. Eine große ungleichmäßige Säule, die sich in den Himmel erstreckte und in endlose kleinere Rohre auswucherte, an deren Enden gelbe, rote oder orange, spitz zulaufende, flache Fetzen wuchsen. Andererseits bewegten sie sich so stet hin- und her, dass jemand, der Wind nicht kannte oder ähnliche Naturgesetze, auf jeden Fall denken musste, dass es sich um eigenständig denkende Lebewesen handelte: Einige flogen los, drehten ein paar Saltos und stürzten sich schließlich auf den Boden, wie ein Greifvogel auf Beutejagd. Außen an den bröckeligen, rauen Säulen war Moos – oder viel eher grüner Stoff – zu finden, der sich um den ganzen unteren Teil ungleichmäßig ausbreitete.

Als ich meine Achtsamkeit auf die Menschen lenken, lächelte ich, da ich mir vorstellte, wie merkwürdig sie wirken mussten, wenn man nicht wusste, was Kleidung war: Wesen, die bunte, meist faltige Haut hatten und aus deren Kopf strohartige Geflechte wuchsen, bewegten sich mechanisch mit ihren Beinfortsätzen in unterschiedliche Richtungen. Einige von ihnen hatten Buckel oder ungleichmäßige Auswüchse an einer Seite und bei vielen von ihnen endete einer der Armfortsätze in einem maschinellen Teil, das sie zu steuern schien, denn sie starrten unablässig mit starrer Miene darauf.

Nun wandte ich mich den Autos zu und beobachtete eine Szene, bei der sich zwei auf dem schmalen Weg entgegenkamen, bremsten, kurz innehielten und sich dann langsam aneinander vorbeidrückten. Ich schmunzelte, als ich formulierte:
Einige größere Wesen mit runden Beinfortsätzen, die über den grauen Boden zu gleiten scheinen und das geflechtartige grüne Teppichwesen mieden, waren vorsichtig in der Begegnung mit anderen ihrer Art. Wenn sie sich sahen, wurden sie langsamer und beschnüffelten sich zunächst, sahen sich in die Augen und gingen dann behutsam ihrer Wege. Dabei klang auch das Aufheulen des Motors wie eine Art Kommunikation zwischen den beiden rundbeinigen Geschöpfen. Dabei fiel mir auf, dass aus dieser Perspektive Autos kommunikativer erscheinen mussten als Menschen, denn diese hoben nicht einmal ihren Kopf, wenn sie aneinander, an Autos, Bäumen oder der Wiese vorbeiliefen. Sie gingen wie Maschinen geradeaus, der Blick starr, entweder in die Ferne gerichtet oder auf ihren „elektronischen Armfortsatz“.

Ich sah, wie die Mensatüren mit Bewegungsmelder auf und zu fuhren, als Menschen hineinliefen und schmunzelte. Das große, starre, graue Wesen öffnete seinen Schlot und die mechanisch gesteuerten Zweibeiner zucken nicht einmal, als sie in sein Inneres verschwanden, als würden sie sich ihrem Schicksal einfach so ergeben. Hin und wieder kommt ein Zweibeiner herausgelaufen, fast so, als würde das graue Steingeschöpf ihn wieder ausspucken.

Ich schloss die Augen und lauschte dem Rauschen der Blätter, dem Autobrummen, dem Vogel­gezwitscher, den gleichmäßigen Schritten der Menschen, dem Plätschern des Wassers. So betrachtet schien unsere Einteilung der Welt schon wirklich sehr willkürlich. Wir waren Menschen, Hunde waren aber etwas anderes, das waren Tiere. Und dann gab es da noch Pflanzen – ach ja, und Technik. Und Wolken waren gar nichts davon, denn sie waren nur ein Naturphänomen aus Wassermolekülen, genauso wie der Teich vor mir.

Doch war diese Einteilung wirklich so deutlich und so klar, so einzig sinnvoll? Ich dachte an die vielen Fälle, wo mir nicht klar war, ob es sich um ein Tier oder eine Pflanze handelte. Ein Seestern war nach biologischer Einteilung ein Tier, soweit ich wusste. War ein Schwamm ein Tier? Oder eine Koralle? Und was war mit Quallen, die wurden meines Wissens nach als Tiere eingestuft, aber sie hatten weder ein Gehirn noch machten sie sonderlich viel, wenn ich mich nicht täuschte. Und fleischfressende Pflanzen? Diese wirkten doch sehr viel agiler als Korallen oder Seeigel. Auch die Einteilung „Gras“ oder „Wiese“ war fast schon merkwürdig, da es sich aus so vielen verschiedenen Halmen und anderen Pflanzen zusammensetzte. Ich sah Klee, Löwenzahn, Gänseblümchen, verschiedene Gräser und Halme, etwas Moos am Rande der Bäume, was davon war nun genau das Gras?

Umso mehr ich über diese Dinge nachdachte, desto verwirrter wurde ich, vermutlich, weil ich mich so sehr darauf konzentrierte, die Einteilung zu dekonstruieren. Warum zählten Wolken nicht als Lebewesen? Klar, sie fühlten nicht, aber das taten Pflanzen ja angeblich auch nicht. Wie klar war die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier? Wir hatten Sprache, okay, aber war das wirklich alles? Und ab wann war der Mensch dann Mensch, denn auch Menschen hatten nicht schon immer Sprache gehabt. Auch heute konnten nicht alle Menschen sprechen, waren aber doch Menschen. Und was zählte als Sprache? Wale, so hatte ich gehört, kommunizierten auch auf komplexe Weise miteinander, sogar Bäume konnten sich auf basale Weise über die Wurzeln und Verflechtungen im Boden über Kilometer miteinander austauschen. Redeten die Vögel nicht auch miteinander? Also gerade die wirkten doch wirklich sehr viel kommunikativer als alle anderen. Klar, Paarungssuche, aber war das wirklich alles? Sicherlich konnten sich Tiere nicht über komplexe Sachverhalte miteinander austauschen. Sicherlich redeten sie nicht über richtig und falsch, über Moral und Ethik, über Gott oder über einen Sinn des Lebens. Aber warum war genau das so entscheidend? Viele Lebewesen hatten Alleinstellungsmerkmale, beispielsweise die Echoortung bei Fledermäusen. Warum war das nicht eine ganz eigene Art, warum zählte das als Tier, genauso wie ein Wurm, ein Elefant oder ein Schim­panse? Für all diese Einteilungen ließen sich natürlich gute Gründe finden. Andererseits ließen sich auch gute Gründe für andere finden und ich fragte mich, ob es so sinnvoll war, sich so stark darauf zu stützen. Und das Ganze konnte ja noch weiter gesponnen werden, denn wann war etwas überhaupt ein Etwas und wann mehrere?

Warum zum Beispiel war eine Gesellschaft kein Lebewesen, obwohl sie ebenfalls in gewisser Weise handeln, sich verändern und lernen konnte? Wir bestanden schließlich auch zu einem großen Teil aus Billionen von Bakterien, warum zählten wir als eins, aber eine Gesellschaft nicht? Oder eine Familie? War sie kein Lebewesen, weil sie kein Gehirn hatte? Aber Quallen hatten doch auch keins. Oder Pflanzen. Und wann war eine Pflanze eine und wann waren es mehrere? Wenn sie einen gemeinsamen Stamm hatte, war es eine Pflanze, ein Baum? Aber was, wenn zwei Bäume – oder war es nur einer? – miteinander verwurzelten und ihre Stämme unterschiedliche Ausläufer bildeten? Konnte man wirklich so genau zwischen allem trennen oder war am Ende nicht doch irgendwie alles eins und es kam nur darauf an, wie nah man heranzoomen wollte?

Im Alltag schien uns ganz klar, wie weit wir zoomen wollten, denn der Mensch war ein Ding, der Teich war ein Ding, die Ente war ein Ding, der Baum war ein Ding. Da waren wir uns ja alle einig. Dabei vergaßen wir, dass man herein- oder herauszoomen konnte. Tropfen, Blätter, Moos, Äste, Atome, Bakterien, Moleküle. Wiese, Natur, Campus, Erde, Universum. Wir waren gleichzeitig eine Ansammlung aus ganz vielen Dingen, nahmen uns dabei als eine Einheit wahr und waren dazu noch Teil von viel mehr.

Diese Überlegungen verdeutlichten mir, wie unklar die Unterscheidungen waren und was Benjamin Lee Whorf mit seiner Aussage gemeint hatte. Die Einteilungen waren willkürlich, nicht einmal scharf trennbar, und hätten genauso anders vorgenommen werden können.

Dazu fiel mir ein interessanter Beitrag eines bekannten Tierrechtlers ein, den Rio mir gezeigt und der ähnlich mit Willkürlichkeit der Grenzen dafür argumentiert hatte, dass Tiere dieselben Rechte wie Menschen haben sollten, da auch Menschen nichts weiter als intelligente Tiere wären. Und dabei erinnerte ich mich an die krasse Gegenreaktion der anderen Parteien und wie der Tierrechtler entgegnete, dass deren Ablehnung daran erinnerte, dass Sklaven früher als nicht mit den anderen Menschen gleichwertig betrachtet wurden, geschweige denn dieselben Rechte hatten. Dasselbe mit Frauen und Männern. Und gerade solche Unterscheidungen hatten zu gravierenden Auswirkungen auf das Leben geführt.

Darüber hatte ich lange nachgedacht. Wenn wir zwischen Mensch und Sklave trennten, war es für uns okay, Sklaven schlecht zu behandeln. Ebenso mit Tieren. Weil wir dachten, sie hätten irgendwas nicht, was sie haben sollten, um vernünftige Rechte zu bekommen, konnten wir die höchsten Gräueltaten rechtfertigen. Aber was war dieses Kriterium in diesem Fall? Sprache? Das konnte wohl kein Grund sein, jemanden töten zu dürfen oder eben nicht. Den Wunsch zu leben? Das hatten wohl alle Lebewesen, zumindest die, die irgendwie Sinneswahrnehmungen hatten, denn sonst würden sie bei Angst nicht davonlaufen, um ihr Leben zu schützen. Mimik? Das war wohl unfair, denn Fische spürten ganz offensichtlich Schmerz, hatten aber keinerlei Mimik, die wir interpretieren konnten. Zudem hatten viele Tiere Mimik, Schimpansen sogar sehr ähnlich zum Menschen, wurden aber trotzdem vollkommen anders behandelt. Oder war es letztendlich die Seele, um die es ging? Das war nun wirklich nicht nachzuweisen, da nicht mal ansatzweise davon ausgegangen werden musste, dass so etwas überhaupt existierte. Und ich war mir sicher, dass die meisten Menschen, die an Seelen glaubten, ihren Haustieren ebenfalls eine Art von Seele zusprechen würden, nur weil sie diese gut kannten. Würden sie ein Schwein oder eine Kuh kennenlernen, würden sie sicher dasselbe denken, denn auch diese hatten einen gewissen Charakter, waren individuell und konnten in komplexen sozialen Strukturen miteinander in verschiedenen Rollen interagieren. Da war ebenfalls wieder diese Kategorisierung zu erkennen: Viele Menschen waren wütend oder aufgebracht, wenn in anderen Ländern Hunde oder Katzen, „Haustiere“, getötet und gegessen wurden, aber bei Kühen, Schweinen und Hühnern war das anders, denn sie waren „Nutztiere“ – ein Begriff, den der Mensch sich einfach ausgedacht hatte, um solche ein Unterscheidung zu rechtfertigen. 

Also irgendwas war an diesen ganzen Kategorien doch willkürlich. Ein Merkmal herauszu­greifen und zu behaupten, ein Mensch war etwas ganz anderes als ein Tier, während aber ein hochintelligenter Oktopus oder ein Schimpanse genauso wie ein Wurm oder eine Qualle ein Tier sein sollte? Das war doch reichlich unausgereift. Und wenn wir aus diesen Kategorien auch noch unzureichende Schlüsse zogen, dann war der Irrsinn komplett. Tiere dürfen wie Sklaven in grauenhaften Bedingungen aufgezogen und wie Gegenstände „produziert“ werden, während Menschen absolu­ten Schutz vom Staat erhielten, von dem sogar unwichtigere Rechte streng verteidigt wurden. Bei Tieren, eben weil sie Tiere waren, durfte man offenbar alles. Man durfte sie zum Spaß töten, wie es Sportangler oder einige Jäger taten, man durfte sie foltern, ihre Gene verändern, sie am offenen Gehirn operieren, wie bei Tierversuchen in der Wissenschaft – manchmal sogar für Kosmetik – und man durfte sie einfach einsperren, sie ihrer absoluten Grundrechte auf Freiheit, Sonnenlicht, jeglicher Bewegungsmöglichkeiten, sozialer Strukturen, ihrer Kinder und am Ende auch ihres Lebens berauben, weil sie „halt etwas anderes waren als der Mensch“. Und darüber waren sich hier die meisten Menschen einig, das war doch vollkommener Irrsinn!

Ich spürte die Wut in mir aufsteigen und das absolute Unverständnis über diese Zustände. Whorf hatte schon recht. Nur durch diese willkürlichen Aufteilungen, die uns eben von klein auf begleiteten und uns wie absolute Gesetzmäßigkeiten erschienen, nahmen wir uns das Recht heraus, Handlungen zu rechtfertigen, die absolut grausam und moralisch absolut nicht zu rechtfertigen waren.

Und gleichzeitig hatte ich in meiner Beschreibung gemerkt, wie schwierig es war, ohne diese Kategorien zu denken. Allein die Verben, die ich benutzt hatte, wie kommunizieren, gehen, wachsen, fliegen, all das waren auch Beschreibungen und Einteilungen. Rohr, Säule, Beine, Arme, Technik, alles Begriffe, mit denen ich bestimmte Dinge verband und zu denen ich Bilder im Kopf hatte. Ohne diese wären wir völlig verloren und ohne eine grundlegende Übereinstimmung darüber könnten wir über gar nichts sprechen. Ich seufzte.

Gab es denn eigentlich nicht irgendeine natürliche Einteilung der Dinge, an die wir uns halten konnten? Ich dachte ein wenig darüber nach, aber kam zu dem Schluss, dass die Natur überhaupt nicht einteilte, in der Natur gab es einfach keine Kategorien oder Schubladen, die Dinge existierten halt einfach, ob da jetzt ein Baum oder zwei standen, ob der Mensch eins war oder ganz viele, darüber urteilte die Natur nicht, denn ohne Sprache gab es keine Kategorien. Dinge existierten einfach.
Sprache war wirklich ein wunderbares Mittel, um zu denken, sich auszutauschen, zu forschen, schlusszufolgern und all die interessanten gedanklichen Operationen durchzuführen – und gleichzeitig war sie so gefährlich und ein starkes Machtinstrument.

Das Ganze ging ja noch viel weiter als nur die Begrifflichkeiten bestimmter Dinge. Die Sprache hatte auch noch weitere Abstraktionen zu bieten, wie beispielsweise Metaphern. Ich dachte dabei die ständigen Nachrichtenbeiträge zu den sogenannten „Flüchtlingswellen“. Ich hatte mich schon immer gefragt, ob diese Beschreibung zustande gekommen war, weil irgendjemand sie sich ausgedacht und dann an alle Medien verbreitet hatte, um die Meinung der Zuschauer zu lenken. Oder war sie irgendwie zufällig aufgrund von Einstellungen so entstanden? Denn sie sagte mehrere Dinge aus: Erstens, es wäre ein Naturphänomen, niemand könnte etwas dafür. Das stimmte nicht, denn Flüchtlinge gab es nur, wenn es Missstände oder Kriege gab, die sehr wohl Entscheidungen einzelner Menschen gewesen waren. Zweitens war eine riesige Welle etwas Fürchterliches, Erschrecken­des, das einen selbst den Kopf kosten und das man nicht aufhalten konnte, außer vielleicht, indem man riesige Dämme baute. Doch auch das war die „Flüchtlingswelle“ nicht, denn wenn es eine gute Verteilung gäbe, würde es keinem Land etwas ausmachen, ein paar tausend Menschen aufzunehmen. Und drittens wurde von „einer Welle“ gesprochen – man hatte weit herausgezoomt. Doch wenn man hereinzoomte, bestand diese Welle wohl kaum aus einer einzigen Masse, sondern aus einzelnen Menschen. Aus Familien, aus Kindern, aus Müttern, Vätern, Brüdern, Schwestern, Jugendlichen. Aus Individuen. Aus menschlichen Wesen, die Angst um ihr Leben und der Hölle ins Auge geblickt hatten. Die auf der Suche nach Sicherheit und Schutz in andere Länder flohen, um dort auf Zäune und wütende, ablehnende Einwohner zu stoßen. Entmenschlicht durch die Sicht auf die große Masse als Ganzes, anstatt auf seine Bestandteile.

So konnte Sprache ganz gezielt verwendet werden, um die Einstellung von Menschen zu manipulieren, oder sie spiegelte einfach die Haltung der Menschen wider, die diese Metapher in Umlauf gebracht hatten. Und kaum jemandem war diese Metapher bewusst. Sie hörten sie, sie verwendeten sie, so wie die Einteilung in Mensch, Tier, Technik, Pflanze, Naturkatastrophe usw., ohne sie zu hinterfragen, zu verstehen oder gar ihre Auswirkungen auf ihr Denken zu sehen. Sie zoomten selten hinein oder heraus und betrachteten die Entfernung als genau die richtige, um darüber zu sprechen.

Ich seufzte erneut. Das war wirklich alles nicht so einfach. Jede Einteilung war menschengemacht und willkürlich, konnte gefährlich sein und manipulierte auf irgendeine Art und Weise das Denken. Aber sie war auch wichtig für das Überleben. Wenn wir nicht kategorisierten, müssten wir jede Situation, jedes Wesen, jeden Augenblick in all seinen einzelnen Bestandteilen, allen verschiedenen Betrachtungs­winkeln und auch als Ganzes mit allen möglichen Zoomvariationen analysieren und verarbeiten. Dazu war kein Mensch in der Lage. Daher brauchten wir eine gewisse Voreinstellung, Schubladen, Kategorien, Filter für die Realität. Wenn nun aber diese Einteilung doch nicht so gelungen, so gerecht war, wie wir dachten, dann hatten wir ein Problem. Es war schwer, aus gewohnten Gedankenmustern auszubrechen, das wusste wohl jeder, der es schon einmal versucht hatte.

Letztendlich schien der einzige Ausweg zu sein, sich, seine Sprache und seine Einteilungen sowie die daraus gezogenen Konsequenzen ständig zu hinterfragen und offen dafür zu bleiben, etwas auf eine neue Weise zu betrachten. Sich klarzumachen, dass alles nur EINE Möglichkeit war, eine Situation zu betrachten, die von Mensch zu Mensch, sogar von Moment zu Moment variieren konnte. Vielleicht mal einen anderen Zoom auszuprobieren oder aus einer anderen Richtung auf etwas zu blicken. Die eigene Wahrnehmung zu schärfen und aus dem Alltag zu abstrahieren. Sich bewusst zu machen, dass alle Einteilung menschengemacht und nicht naturgegeben war. Die Augen zu öffnen für eine andere Sichtweise. Sich klarzumachen, dass niemand die volle Wahrheit sehen oder begreifen kann – in voller Demut und Bescheidenheit.

Dieser Text entstand in einem Schreibkurs von Friedmann Harzer an der Uni Augsburg. Die Aufgabe war, eine Weile lang die Welt zu beobachten und zu versuchen, sie mit außerirdischen Augen zu betrachten. Ich habe Jane Erie, die Hauptfigur aus meinem Buch, das hoffentlich irgendwann erscheint, diesen inneren Monolog führen lassen.

Im Nachhinein ist mir klar geworden, wie sehr das die Vorgehensweise der GFK beschreibt. Die Welt mit anderen Augen sehen und unter anderem auch anders sprechen, als wir es gelernt haben. Neue Blickwinkel, andere Betrachtungsweisen, eine andere Art zu denken, die sehr viel eher zu einem friedlichen Miteinander führen wird. Wenn du mehr darüber erfahren willst, wie die GFK deine Perspektive erweitern und dir neue Sichtweisen aufzeigen kann, schau gerne mal in meine Angebote.

Wir fürchten das Unbekannte, also reduzieren wir es auf die Begriffe, die uns vertraut sind. Ob es nun ‚Märchen‘, ‚Krankheit‘ oder ‚Verschwörungstheorie ist. – Fox Mulder (Akte X Staffel 3)

Was denkst du darüber? Was ist deine Sichtweise auf die Dinge? Hast du schon einmal solche oder ähnliche Gedanken habt? Schreibe es mir gerne in die Kommentare! Ich bin gespannt!